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Blog

Es geht weiter

Was für eine schreckliche Woche. Der einzige Lichtblick war, dass, kaum hatte ich den Blogeintrag am Montag geschrieben, mein Mann eine Nachricht schickt, dass er wieder aus der Reserve entlassen wird. Er hatte vor etwa einem Monat einen (Gott sei dank leichten) Autounfall und war noch nicht wieder fit. Von krankgeschrieben auf dem Sofa liegend in eine Army Base in den Süden und zurück.


Wenn ich versuche, die Ereignisse aus der letzten Woche so klar aufzuschreiben, wie im letzten Blogeintrag, Samstag, Sonntag, Montag, merke ich jetzt, dass alles zu einem einzigen Blob an schlechten Erinnerungen geworden ist. Am Montag Abend hat mein Mann mir die Videos aus der Base gezeigt, der Zusammenhalt! Zivilisten aus der Nähe bringen Anhänger voller Essen, Schlafsäcke, Rasierschaum, Feuchttücher... Die religiösen Reservisten in seiner Base fangen an zu beten und zu singen, sich gegenseitig zu motivieren, Sekuläre stimmen ein. Es hieß in den Nachrichten sogar, dass viele sich einen Tallit zur Spende gewünscht haben, um die Zizit, die Schaufäden, immer als Erinnerung dabei zu haben. Natürlich in Olivgrün, damit sie in der Uniform nicht so auffallen.



Dienstag

Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein schönes Gefühl es ist, aufzuwachen und meinen Mann neben mir liegen zu sehen. Während er Schlaf nachholt, schicke ich einen Leserbrief an die regionale Tageszeitung meiner Eltern, die "kurz und einfach" auf der Kinderseite versucht, den Nahostkonflikt zu erklären. Und das so schlimm, dass man Briefe schreiben muss. Auf meine Nachricht bekomme ich nie eine Antwort.


Ãœberhaupt telefoniere ich in diesen Tagen so viel wie noch nie im Leben. Auf einmal ist es 2, 3 Uhr nachts, als wir vom Gassi nach Hause kommen. Die Wildschweine, vor denen ich vor Monaten noch Panik hatte, machen mir gar keine Angst mehr. Es gibt jetzt viel schlimmeres.


Dann am Dienstag Abend hatten wir den ersten Alarm meines Lebens hier in Haifa. Ich saß gerade zum ersten Mal halbwegs entspannt auf dem Balkon, hab mir ein Bier aufgemacht, mein Lieblingsmusiker Asaf Avidan hatte ein Stream-Konzert für alle Israelis angekündigt, ich freue mich auf eine halbe Stunde andere Gedanken. Das Konzert hat mich mehr mitgenommen als gedacht, ich habe noch Tränen übrig und lass wieder mal alles raus. Mein Kiefer schmerzt mittlerweile vom ständigen Schluchzen und die Schreie von Asaf, der selbst ziemlich fertig ist, tun ihren Teil. Kaum ist das Konzert vorbei, geht es hier los. Es klingt wie ein Motorrad, das zu schnell um die Kurve fährt, aber der Sound geht weiter, ich merke gleich, Alarm. Fuck. Ruhig bleiben. Ich rufe die Hunde, steuere den Flur an, wir haben keinen Bunker und sitzen stattdessen im Flur auf dem Boden, immerhin an drei Seiten von Wänden umgeben. "Ich schwöre, ich weine wegen dem Konzert", sage ich zu meinem Mann, der kurz drauf lächelt "Hey, dein erster Alarm!" Wir machen das beste draus und unpassende Witze haben mir schon immer geholfen. Die Erleichterung tut ihren Teil und wir schicken ein Selfie vom Fußboden aus an meine Familie in Deutschland.


Auf das, was danach kommt, bin ich nicht vorbereitet. Mein Mann telefoniert - für seine Verhältnisse - aufgeregt mit seinen Eltern, ich höre Wortfetzen "in den Süden" "Taschen gepackt"... Was?! Im Fernsehen wird gemeldet, dass der ganze Norden angegriffen wurde, außerdem eine Infiltrierung in Maalot-Tarshisha. Sofort gehen mir die Bilder von der "gemischten Stadt" durch den Kopf, wir haben in einem arabischen Restaurant in Tarshisha Humus gegessen und ich kenne jüdische Freunde im Teil Maalot. Dazu eine Meldung, im Bunker zu bleiben. Mein Mann erklärt mir die ganze Situation kurz und knackig, wenn es so schlimm ist, wie im Fernsehen gezeigt, wird auch hier ein Krieg losgehen, wir haben ja keinen Bunker, deswegen die Überlegung, notfalls in den Süden zu fahren. Ich fühle mich, als wäre ich nicht ich selbst, als wäre ich ein Charakter in einem Film und schaue mir dabei zu, wie ich im Wohnzimmer stehe und wir reden. Wie ferngesteuert packe ich vorsichtshalber eine Notfalltasche und hoffe, dass wir sie nicht brauchen werden. Wir bauen kurzerhand um, schieben einen Gefrierschrank, der neben der Eingangstür steht (fragt nicht, ich bin in einer Fischer-Familie gelandet und da sind die Köder drin...) in die Mitte des Raumes, um auch von der vierten Seite ziemlich abgeschirmt zu sein. "Stell dir vor, wenn uns die Kalamari jetzt das Leben retten!" Er ist und bleibt Fischer und der Humor beruhigt mich.


Nach einer Stunde auf dem Boden sitzen kam dann Entwarnung, man kann den Bunker verlassen, es war ein Fehlalarm, das ganze Land hätte die Meldung, im Bunker zu bleiben, bekommen.



Mittwoch

Seit dem Alarm fühlt sich alles in unserer Wohnung unsicher an. Und draußen sowieso. Vorher war die Wohnung mein Zuhause, wenn gar nichts geht kann ich mich hier verkriechen, jetzt erinnert mich alles an den Alarm und die Panik über einen Krieg in den Minuten danach. Jedes Motorrad auf der Hauptstraße klingt wie ein Alarm. Ich streichele unsere ängstliche Hündin, die der Tierschutz damals auf der Straße aufgelesen hat: "Schau, jetzt bin ich genauso traumatisiert wie du..."


Auf Social Media lese ich jetzt Kommentare wie "ja was in Israel passiert ist schlimm, aber..." und versuche, sofort aufzuhören, weiter zu lesen, aber es nutzt nichts. Ich lese, wie uns das alles Recht geschieht und wir das zurück bekommen, was wir den Palästinensern seit Jahrzehnten antun. Eine Freundin trifft es am Telefon auf den Punkt, ich durchlaufe grade die ganz natürlichen Stufen von Trauer: Schock, Fassungslosigkeit, Trauer, Wut... Den ganzen Tag über frage ich "Warum hassen uns alle?" Wo bleibt der Aufschrei, den es bei anderen Terrorattacken auf der ganzen Welt gibt? Niemand färbt seine Profilbilder in die Farben der israelischen Flagge, außerhalb meiner Israel- und jüdisch-deutschen Bubble schreiben die Leute nicht einmal, dass es ihnen leid tut, ohne vorher die israelische Regierung zu kritisieren. Auf dieses Mitleid kann ich verzichten.


Dafür kommt weitere Unterstützung von einer lieben Freundin, die über die Situation berichten wollte. Ich habe ihr den Leserbrief an die andere Zeitung vom Vortag weiter geleitet, den Rest über mich weiß sie schon und zack, ist das Israel-Thema auf der Titelseite der Reichenbacher Zeitung. Wie dankbar ich über so eine Unterstützung bin, kann ich gar nicht in Worte fassen.


Viele beruhigen mich auch, die Israelflaggen wurden doch ans Brandenburger Tor und auf den Eiffelturm projiziert, aber ich wünschte mir von meinen privaten Freunden irgendeine Reaktion. Genauso wie sie sich versichert haben, dass es mir "gut geht" (physisch ja, psychisch ganz und gar nicht), würde ich mir jetzt einfach ein Symbol wünschen, dass sie auch in der Öffentlichkeit auf unserer Seite stehen. Vielleicht haben viele Angst, nicht genug über den Nahostkonflikt zu wissen, aber für einfache Anteilnahme muss man keine politische Diskussion starten.



Donnerstag

Morgens, als ich aufstehe und mir vornehme, "wichtige Sachen" zu erledigen, wie ein Buch in die Bücherei zurückzubringen oder endlich das Bad zu putzen, weiß ich noch nicht, dass mir wieder ein langer, anstrengender Tag bevorsteht. Ich vergesse seit Tagen zu essen, weil ich keinen Appetit mehr habe, und auch heute werde ich nachmittags um 4 die leere Müslischüssel finden, die ich mir morgens rausgestellt und vergessen habe.


Mein Papa ruft an, mit einer Anfrage vom Fernsehen. Unser Lokalsender TV Oberfranken will mit uns über die Situation in Israel sprechen. Ich sage gleich zu und rede ihm gut zu, auch mitzumachen. Er sagt, er wäre zu schüchtern, aber ich weiß, dass er was zu sagen hat, er ist immerhin schon lange, bevor ich ausgewandert bin, mit anderen Israelis befreundet. Ich spreche und es kommt alles aus mir heraus, viel mehr und viel emotionaler, als ich geplant hatte. Jemand vom Sender sagt, ich solle nicht enttäuscht sein, wenn es sehr gekürzt wird, für den Beitrag haben sie insgesamt nur 5 Minuten.


Als ich am Nachmittag zum ersten Mal aus unserer Nachbarschaft in einen anderen Stadtteil fahre, ruft auf dem Weg dorthin wieder der Sender an, es wird eine kurze Version geben und auf der Website das komplette Interview veröffentlicht, weil sie alles so wichtig finden. Unterwegs im Zentrum von Haifa sind Läden geöffnet, viele von den Leuten auf der Straße sind für die Sicherheit zuständig und ich bin ihnen mal wieder endlos dankbar, einfach für die Präsenz.


Am Abend dann meine Stunde der Wahrheit, ich höre mich nämlich gar nicht gerne selbst reden - man könnte das Gegenteil denken, so viel wie ich immer schreibe aber Tippen ist mir viel lieber. Hier also ein Link zum "kurzen" Fernsehbeitrag und hier der Lange von über 16 Minuten.



Freitag & Shabbat

Ich bin so fertig und brauche endlich Shabbat und brauche endlich die Ruhe! Aber statt am Wochenende liegen zu bleiben und auszuschlafen, besuche ich am Freitag Morgen einen Erste Hilfe-Kurs, den jemand in der Nachbarschaft anbietet. Wir üben Wiederbelebung, Druckverbände und wie man eine Blutung stillt. "Für viel mehr ist grade im kurzen Kurs keine Zeit, aber das ist das wichtigste im Krieg." Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, das Meer ist still und fast glasklar und es ist trotzdem Krieg. Aber es fühlt sich gut an, was zu tun, ich besuche noch meine Schiwegermutti und arbeite zuhause bis zum Nachmittag.

An Shabbat schaue ich dann zum ersten Mal nicht auf mein Handy oder Social Media insgesamt und das hat so gut getan, zum ersten Mal für 25 Stunden Ruhe im Chaos. Als ich nach Shabbat die ersten Nachrichten lese, beschließe ich kurz darauf, mein Facebook komplett zu schließen, die Kommentare und der Müll sind die Zeit nicht wert. Überhaupt, habe ich mir am Shabbat einfach Zeit für mich genommen, ohne ein schlechtes Gewissen, nicht genug zu tun. Heute gingen die To-Do-Listen natürlich weiter, aber es ist gut, dass unser Shabbat mir gezeigt hat, dass es auch anders geht.


 

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