12-Tage-Chaos
- Lisa
- 20. Juli
- 11 Min. Lesezeit
Freitagmorgen, der 13.6.2025, 3:00 Uhr. Draußen Sirenen, wir sind sofort wach, verfluchen die Huthis und setzen uns in unseren „sichersten Ort“, die innere Ecke in unserer Wohnung, die ans Treppenhaus grenzt. Es ist fast wie eine Routine, aber man zittert durch den plötzlichen Alarmton trotzdem immer. Der Boden, auf dem wir sitzen ist von der Klimaanlage eiskalt und ich will zurück ins Bett. Doch irgendwas ist komisch, im Vergleich zu „normalen“ Alarmen bleiben unsere Handies still. Als wir unsere Pikud Haoref-App checken, steht dort nichts von einem Raketenangriff, alles wird auf einmal seltsam. Mein Mann schaltet den Fernseher ein, es läuft eine Sondersendung und jemand von Pikud Haoref, dem Heimatfrontkommando, das sich um sämtliche Krisenmeldungen kümmert, berichtet uns, dass die Alarme vorsorglich aktiviert wurden. Israel hat präventiv den Iran angegriffen, weil dessen Nuklearprogramm katastrophal weit fortgeschritten ist und das Risiko, einen Iran mit Atomwaffen in der nahöstlichen Nachbarschaft zu haben, zu groß wäre. Nicht umsonst stand in Teheran ein Timer, der die Zeit herunterzählt, wie viele Tage es dauern wird, bis das islamistische Regime im Iran Israel zerstört.
„Gottseidank bin ich daheim!“ Ich bin erst vor vier Tagen von meinem jährlichen Familienbesuch in Deutschland zurückgekommen. Gleichzeitig ärgere ich mich um das Timing – ich war nach dem Flug noch so müde, dass ich mich mehr als alles andere auf ein ruhiges Wochenende zuhause gefreut habe. Mehr Gegenteil geht ja wohl nicht. Wir fangen an, unsere Taschen für den öffentlichen Bunker zu packen – wenn der Iran zurückschlägt, reicht unser Treppenhaus nicht aus, wir brauchen einen sichereren Ort. Mein Mann tankt inzwischen das Auto voll und bringt Wasserflaschen mit, dann räumen wir das Gröbste aus dem Auto. Man weiß nicht, was kommt, vielleicht müssen wir in einen anderen Teil des Landes fahren. Ich bin weiter genervt, bringe meine Mama per Whatsapp auf den neuesten Stand: „und wehe das ist jetzt nur am Wochenende und am Sonntag soll ich frisch und ausgeruht im Büro sitzen...!“ Ich bin wirklich, wirklich müde nach meinem Besuch in Deutschland.
In den Nachrichten werden wir über die neuen Sicherheitsbestimmungen und Warntöne informiert. Außerdem sagen sie, dass der Flughafen für drei Tage geschlossen bleibt und wir auch mindestens die gleiche Zeit lang nicht ins Büro können. Nur essentielle Arbeiten, wie Supermärkte oder Apotheken haben geöffnet. Es wird vier Uhr früh, dann fünf, wir warten weiter, dass jeden Moment der Gegenschlag aus dem Iran kommt. Die Vorstellung, dass wir vielleicht mehrere Stunden, im schlimmsten Fall Tage im öffentlichen Bunker sitzen, graut mir und ich wasche mir vorsorglich meine Haare, wer weiß, wann ich wieder dazu komme? Nach einer weiteren dreiviertel Stunde, Sonnenaufgang und den Morgengebeten werden wir langsam müde – und sollte ein Alarm kommen, haben wir ja zehn Minuten. Wir legen uns wieder hin.
Als wir aufwachen, lese ich von einer Entwarnung, man muss sich nicht mehr in nächster Nähe zu einem Bunker aufhalten. Das Warnsystem ist in den ersten Tagen folgendermaßen:
Stufe 1: Haltet euch in der Nähe eines Bunkers auf. Heißt, nicht unbedingt mit dem Auto durch die Gegend fahren, Erledigungen zu Ende bringen, wir legen unserer Hündin schon mal das Geschirr an.
Stufe 2: Der schrecklichste, lauteste und nervigste piepende Warnton, bei dem es mir sogar nach dem Krieg bei Videos im Internet die Fußzehen hochrollt. Ab jetzt haben wir zehn Minuten. Maximal, später dazu mehr.
Stufe 3: Zeva Adom, den Alarm, den wir schon vom Krieg mit der Hisbollah kennen. Jetzt gehen auch draußen die Sirenen los und wir haben eine Minute Zeit, uns in Sicherheit zu bringen.
Den Freitag versuche ich mir mit Blintsches und Germany’s Next Topmodel zu vertreiben, solange mein Mann schläft, will ich so wenig Nachrichten wie möglich hören, um nicht noch aufgeregter zu werden. Gegen Abend, um kurz nach 9 kommt die erste Vorwarnung: demnächst trudeln Alarme ein. Wir gehen vollbepackt mit einem Secherpack Wasser, jeder einem Rucksack, einer kleinen Tasche für Karla, unsere Hündin und einer Isomatte zum Bunker, etwa 150 Meter von unserem Zuhause entfernt und passenderweise in einer Synagoge. Besser könnten wir ja nicht beschützt sein. Auf dem ganzen Weg dorthin sage ich immer wieder das „Shma Israel“. Ein Nachbar freut sich, uns zu sehen, er hält mir einen Platz frei. Mein Mann und Karla sind noch draußen, bis der tatsächliche Alarm kommt, beide fühlen sich in engen Räumen mit vielen Menschen, bzw. vielen anderen Hunden nicht wohl. Dann beginnen die Alarme, Leute sprechen von Einschlägen im Zentrum, aber kaum jemand hat hinter den dicken Bunkerwänden überhaupt Verbindung zur Außenwelt. Es ist eine wahnsinnige Anspannung, in der kleinen Synagoge sind locker um die sechzig Menschen, viele haben natürlich ihre Hunde oder Katzen mitgebracht.
In den nächsten Tagen bringen wir einen kleinen Radio mit, um zu verfolgen, was passiert und die Meldung zu hören, dass man den Bunker verlassen kann. Noch ein Unterschied zum Krieg mit der Hisbollah: Jetzt müssen wir nicht mehr nur 10 Minuten warten, sondern im Bunker bleiben, bis eine Entwarnung kommt. Ich wünschte, alle Nachbarn, die mit uns im Bunker sind, würden sich daran halten und nicht nach 3 Minuten und den ersten Booms die Geduld verlieren und die Türen öffnen. Mein Mann beruhigt mich, dass "im besten Fall nur noch Raketenteile vom Himmel fallen", dagegen sind wir mit offener Tür ja immer noch geschützt. Die Entwarnung kommt um 22:30, nach etwa eineinhalb Stunden. Ab jetzt verliere ich mein Gefühl dafür, wie spät es ist und welches Datum wir haben. Laut meinem Whatsapp-Verlauf waren wir Samstags von ein Uhr nachts noch mal eine Dreiviertelstunde im Bunker, dann abends um 23 Uhr das nächste Mal. Tagsüber sind wir fertig und versuchen, Schlaf nachzuholen, weil wir jetzt wissen, wie unsere Nächte ablaufen werden.
Am Sonntag tagsüber dann mein Alptraumszenario: Ein Alarm ohne 10 Minuten Vorwarnung. Von null auf Hundert „Zeva Adom“. Ich weiß, dass unser Treppenhaus nicht genug geschützt ist, aber was bleibt uns denn sonst übrig? Mein Mann holt unsere Hündin, als ich mich gerade setzen will ruft er, ob ich rennen will. Ich springe wieder auf, wir haben jetzt vielleicht noch 45 Sekunden, also Tür wieder auf, Riegel weg (den wir immer Vorschieben, falls es einen Einschlag in der Nähe gibt und die Druckwelle die Tür nicht aus den Angeln hebt) und ich renne. Es ist Mittags und locker 30 Grad, ich zittere eh schon und hoffe, dass mein Mann mit Hund hinter mir endlich aus dem Haus kommt. Als ich abbremse und kurz nach der Hälfte des Weges um eine kleine Ecke biege, merke ich, dass ich nicht mehr kann. Es ist zu warm, die Alarme zu laut, der Druck zu groß und ich will schon fast in einen Hauseingang einbiegen, um zumindest immerhin etwas geschützt in einem Treppenhaus zu sein. Es ist ein ganz schreckliches Gefühl, während einem Alarm draußen zu sein, man hat ständig dieses "Was wenn hier wirklich gleich was passiert?" im Kopf. Dieser Gedanke ist mein einziger Ansporn, weiter zu rennen. Am Bunkereingang stehen noch Nachbarn, ich frage mich worauf sie warten, die eine Minute Alarm und die Sirenen sind gerade vorbei, als ich im Bunker ankomme. Kurz nach mir kommen mein Mann und Karla. Gottseidank. Rein. Tür zu. Ich bin nicht die Einzige, die völlig fertig ist. Eine ältere Nachbarin kommt mit dem Druck und dem Geschrei im Bunker nicht klar, bittet die Leute, ruhig zu sein und erntet Gemaule: "Du bist doch die Einzige, die Krach macht..." Wieder einmal mehr wird mir klar, dass ich endlich aus dieser Nachbarschaft weg will. Wenn ich da geahnt hätte, wie schnell sich mein Wunsch erfüllt… Im Bunker wird mein Mann zum ersten Ansprechpartner für die älteren Damen – er hat ein Radio und bewahrt die Ruhe.
Am Abend kommt noch ein Alarm, diesmal mit 4, anstatt 10 Minuten Vorwarnung. Die zehn Minuten, in denen wir uns langsam Schuhe angezogen haben werden vom "Vorbereiten" zum "Go", der Alarm am Nachmittag hat mich so fertig gemacht, dass ich sowas nie wieder erleben will. Wir haben mittlerweile auf einem Handy den Standort als Tel Aviv eingegeben, dort gab es nachmittags nämlich eine Vorwarnung, nur hier im Norden nicht. Vor dem Bunker steht ein riesiges Wildschwein, das Menschen, Hunde und sich selbst gleichermaßen aufregt. Was kommt noch?
Nachts um 2 gibt es dann eine Vorwarnung für Tel Aviv, wir gehen vorsorglich eine Runde Gassi in Richtung Synagogen-Bunker, schauen uns auf dem Weg dorthin noch die alte Grundschule meines Mannes an, die im Keller zwei weitere Bunker hat. Hier schlafen Familien, sie sind noch voller als die Synagoge. Für 2 Uhr nachts sind verhältnismäßig viele Menschen unterwegs, alle sind unruhig, viele haben die Warnung aus Tel Aviv gesehen und sind auch "schon mal auf dem Weg, man weiß ja nie". Wir sitzen auf einer Parkbank und warten auf den Alarm. Wie absurd. Außer den Haifa-typischen Wildschweinen begegnen uns in dieser Nacht noch ein Schakal und ein Stachelschwein. Um halb drei gehen wir zurück nach Hause, es gibt eine Entwarnung im Zentrum.
Dafür werden wir schon morgens um 4 wieder geweckt. Vom Alarm aufschrecken, Brille auf, Schuhe an, Kleid drüber werfen, Rucksack und Hund mitnehmen und raus. Alles ist mittlerweile eine einzige flüssige Bewegung. Es ist Montag, der 16.6., unser Schlafrhythmus ist komplett durcheinander und als ich mittags aufwache, sehe ich eine Anfrage von TV Oberfranken. Kurze Vorbereitung, ich suche Details, bin unsicher, wie weit der Bunker von uns entfernt ist und will im Fernsehn nicht übertreiben. Aber ich muss mich fertig machen und Duschen gestaltet sich in dieser Zeit auch als eine Herausforderung. Ich vereinbare mit meinem Mann, dass er mich natürlich ruft, wenn es eine Vorwarnung gibt - selbst die für Tel Aviv. Als ich unter der Dusche stehe, geht die Tür auf, ich bekomme fast einen Herzinfarkt und reiße vor lauter Aufregung fast den Duschvorhang ab. „Also, die Synagoge mit dem Bunker ist 150 Meter entfernt.“ Ist nicht sein Ernst.
Am Abend sitzen wir im Zoom-Unterricht, versuchen immerhin ein bisschen Routine einkehren zu lassen und als man gerade nicht mehr an den Alarm denkt und nicht mehr sprungbereit sitzt, kommt schon wieder dieser schreckliche Ton. Zehn Minuten, vielleicht weniger, wie wir es jetzt ja schon öfters erlebt haben. Unsere Hündin ist diesmal panisch, mein Mann ruft mir zu, ich soll schon mal vorgehen er kommt gleich. Während ich noch auf dem Weg bin, geht der „Zeva Adom“-Alarm los. Es sind gerade mal zwei Minuten seit der Vorwarnung vergangen. Scheiße. Ich renne die letzten Meter und suche im Menschengedränge, die in den Bunker kommen meinen Mann. Gottseidank da ist er. Ich schaue nach unten, ohne Karla. Mein Herz bleibt zum zweiten Mal heute fast stehen. Sie hat sich aus dem Geschirr gewunden und mein Mann musste rennen, als der tatsächliche Alarm los ging. Alle fragen, wo unsere Hündin ist und ich weiß nicht mehr, wie ich diese knappe halbe Stunde verbracht habe, bis wir wieder raus konnten. Zuhause habe ich sie nur umarmt und geküsst und als ich wieder aufstehe, wird mir schwarz vor Augen. Das war ein Schreckmoment zu viel. Als es mir besser geht, stellen wir alle Schnallen an ihrem Geschirr enger, der nächste Alarm lässt nicht lange auf sich warten und die älteren Ladies im Bunker sind auch froh, dass Karla wieder bei uns ist, und ich relativ beruhigt.

Am nächsten Morgen um ca. 4 Uhr haben wir wieder nur drei Minuten vom Vor-Alarm bis zum tatsächlichen, ich schlafe mittlerweile komplett angezogen und schnappe mir Brille, Sandalen und Hund, wenn der Vor-Alarm aus Tel Aviv kommt. Diese extra Stufe Warnung gibt mir zumindest ein bisschen Sicherheit, aber der Tag vorher hat mich mental so fertig gemacht, dass wir uns nachmittags eine neue Wohnung anschauen – mit Mamad, einem privaten Bunkerzimmer in der Wohnung. Es klingt in diesem Moment nichts schöner und verlockender als die Vorstellung, bei einem Alarm einfach zurück ins Bett zu gehen – Stahlfenster und Stahltür zu und wieder hinlegen. Was für ein irrer Luxus das sein muss!
Zum ersten Mal seit Freitag gehe ich weiter als bis zum Bunker aus dem Haus, mein Trost ist, dass es ja den Mamad in der Wohnung gibt, die wir besichtigen. Für die Strecke unterwegs lade ich eine Liste mit öffentlichen Bunkern von der Stadt Haifa in Google Maps, auf der Fahrt und während der Besichtigung geht alles gut und beim Gedanken daran, wieviele Wohnungen mit Mamad gerade leer stehen, weil Wohnungseigentümer auf zahlende Mieter warten, statt sie Menschen zugänglich zu machen, die keinen Schutzraum haben, platzt mir fast der Kopf vor Wut. Die Wohnung ist zwar etwas teurer als wir für unseren Umzug ab September geplant hatten, aber es gibt einen privaten Garten und eben den Unschlagbaren Mamad. Dann sind wir eben die Dödel, die diesen unverschämten Preis zahlen, denn jeden Abend wird mir beim Gedanken an die bevorstehende Nacht richtig schlecht vor Sorge. Ich halte die ständige Anspannung, jede Sekunde aufspringen und zum Bunker rennen zu müssen, kaum noch aus. Auf dem Weg zurück nach der Besichtigung kommt im Radio die Vorwarnung für Tel Aviv, wir machen uns auch schon auf die Suche nach einem Bunker in der Nähe und drehen eine Runde in einem Parkhaus unter einem Einkaufszentrum, das als "ab Stockwerk -3 sicher genug" eingestuft wurde. Der Alarm entpuppt sich als Fehlalarm, am Abend, fast noch, bevor ich mir über die bevorstehende Nacht Gedanken machen kann, gibt es wieder einen Alarm. Keine 4 Stunden später, als ich gerade eingeschlafen war noch einen. Am nächsten Tag unterschreiben wir den Mietvertrag.
Das Beste, zu dieser Zeit umzuziehen ist, dass wir keine Zeit für den Umzug hatten. Das Wichtigste für die ersten Tage in Plastiktüten – alles hat zu und es gibt keine Geschäfte mit Kartons – und ein Umzugsunternehmen, das Wohnzimmermöbel, Bett und Kühlschrank mitbringt. Mehr als das und den Mamad brauchen wir nicht. Ich übe, das Stahlfenster und die Stahltür zügig zuzuziehen und zu verriegeln und kann zum ersten Mal in dieser Woche entspannen. Der Ton, bei dem man jedes Mal fast einen Herzinfarkt bekommt, ist noch genauso schlimm, aber unsere Hündin an ihren Lieblingsplatz neben dem Bett zu rufen, oder zitternd in den öffentlichen Bunker zu bugsieren sind Welten Unterschied. Vom draußen durch die Gegend rennen mal ganz abgesehen. Es wird insgesamt ruhiger, der Iran hat weniger Kapazitäten und anstatt 70-100 Raketen pro Alarm schicken sie jetzt ungefähr 10 pro Angriffswelle. Trotzdem gibt es einen Einschlag in Haifa, Bilder zu sehen und direkt zu wissen, wo genau die Rakete gelandet ist, ist so furchtbar. Die Polizei und Pikud Haoref warnen davor, Videos vom Einschlag zu teilen, aber Social Media ist zu schnell – und es wurden schon mehrere ausländische Fernsehteams, Al Jazeera wie Deutsche vom RTL dabei erwischt, wie sie von Einschlagstellen berichten. Als ausländische Medien, bei denen man nicht sicher sein kann, wo die Infos landen natürlich absolut illegal.
Und was für einen Unterschied dieser Mamad zuhause macht. Ich fühle mich insgesamt viel sicherer, mein Mann muss Sachen für die Arbeit erledigen und das Auto fit für den Kundendienst machen. Meine Sorge, dass er nicht rechtzeitig zu einem Bunker kommt, wenn er zur Autowaschanlage fährt, geht so weit, dass ich das Auto kurzerhand selbst staubsauge. Die viertel Stunde, die er zum Supermarkt unterwegs war, war so schon schlimm genug. Am nächsten Tag, als er gerade beim Kundendienst ist, dann meine Sorge: er ist unterwegs und es gibt Alarm. Er schreibt mir direkt, dass er im Mamad ist, Karla und ich sind zuhause, ich arbeite mittlerweile im Homeoffice und verlege meinen Arbeitsplatz ins Schlafzimmer, um nicht immer aufspringen zu müssen. Im Radio verfolge ich, wie die Welle von Alarmen von ganz oben im Golan über Galiläa immer tiefer kommt, dann auch bei uns ist und weiter bis Tel Aviv, Jerusalem und Beer Sheva kommt. Die Zeit vergeht und vergeht und es gibt noch keine Entwarnung – genau, wenn ich allein daheim bin. Die Bilder, die man jeden Tag von zerstörten Häusern sieht, sind ganz schlecht für die eigene Fantasie und "was wäre wenn…".
Am nächsten Tag ruft Trump den Waffenstillstand aus, kurz danach springen wir wieder in die Bunker, für vorerst zum letzten Mal. Abends kündigt Pikud Haoref in den Nachrichten an, dass das ganze Land von Alarmstufe rot wieder zurück auf grün gesetzt wird – schickt die Kinder morgen in den Kindergarten, geht in die Arbeit, alles läuft weiter, als ob nichts gewesen wäre. Ich bin am nächsten Tag die Einzige, die immer noch im Homeoffice arbeitet. Ich kann mich so schnell nicht umstellen, am einen Tag werden Menschen von ballistischen Raketen getötet und am nächsten soll ich im Bus und zu Fuß auf einer Strecke, von wo aus ich weit mehr als 10 Minuten brauche, bis ich im Notfall einen Bunker erreichen kann, zur Arbeit fahren? Meine Chefs verstehen mich, ich bin immerhin die Einzige im Team, die erst seit ein paar Jahren in Israel lebt. Nachmittags mache ich einen kleinen Spaziergang und sehe zum ersten Mal unsere neue Nachbarschaft, Kinder kommen von der Schule, Busse fahren, auf der Straße, auf der immer Stau ist, ist wieder Stau. Als ich am nächsten Morgen auch in die Arbeit fahre, ist alles wie beim Alten, nur etwas müder als vor zwei Wochen.