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Zurück im Leben

Israel ist nach den strengen Regelungen im letzten Jahr endlich zurück im normalen Leben angekommen. Wir brauchen außer Haus keine Masken mehr - die Hunde fragen sich bestimmt, wieso wir auf einmal fünf mal am Tag raus gehen, statt den gewohnten zwei Gassi-Runden. Endlich wieder spazieren gehen!


Außerdem sind für Geimpfte mit "grünem Pass", den ich nun auch endlich mit Verspätung bekommen habe, unter anderem Hotels und Konzerte geöffnet. "Das muss ausgenutzt werden", dachte ich mir und habe direkt eine Woche voller Ausflüge geplant: Zwei Übernachtungen in Jerusalem, eine geführte Tour zu den Samaritern und ein Konzert meiner Lieblingsband inklusive einer Nacht in Tel Aviv. Letzteres ist zwar nicht mal eine Stunde Fahrt von uns entfernt, aber ich war trotzdem seit Februar 2020 nicht mehr dort.


Jetzt versuche ich die ganzen Eindrücke der letzten Woche irgendwie zusammen zu fassen - ich habe immerhin in diesen 5 Tagen mehr erlebt, als im letzten halben Jahr.



 


Jerusalem


"Scheiße, Scheiße, Scheiße..." murmele ich vor mich hin, während ich mich im Schatten auf den kühlen Stein fallen lasse. "Was hab ich mir dabei gedacht?" Ich sitze in immer noch gut 10 Metern Höhe, links geht es geradeaus nach unten, rechts schützt mich immerhin die jahrtausende alte Mauer der Jerusalemer Altstadt und ich hab gerade in diesem Augenblick - oder sagen wir gut eine halbe Stunde vorher, als ich die Stufen die Mauer hoch erklommen hatte - bemerkt: Ich habe Höhenangst. Und zwar ganz schön.


Aber von Anfang an. Stellt euch hier ein Kassetten-Zurückspul-Geräusch vor.


Es ist ein Samstag Vormittag, Ende April und ich bin mit einem Sherut, einem Sammeltaxi mit 10 Plätzen, auf dem Weg von Haifa nach Jerusalem. Von Haifa bis Tel Aviv geht alles gut, dort muss ich umsteigen, in ein älteres und kleineres Taxi. Trotzdem mit 10 Sitzplätzen und als ziemlich große Person fühle ich mich, als hätte man meine Knie in einen Schraubstock gespannt. Großes Slicha an meine Nebenmänner, wir sitzen alle im geichen Boot. Minibus. Leider bin ich aber die einzige im Bus, die bemerkt, dass der Fahrer ein bisschen müde scheint, er bremst öfter mal abrupt ohne Grund und seine Augen werden kleiner und kleiner. Ab diesem Moment sind meine Augen dafür aber umso weiter aufgerissen, ich starre auf das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel, um im Notfall den Moment abzupassen, an dem seine Augen komplett zu fallen und ich das typisch israelische "Nahag!" rufen kann. Oder muss.


So angespannt wie meine Beine zwischen den Sitzen vergeht also die Fahrt und kurz vor dem Ortseingang Jerusalem dachte ich, es ist so weit, wir kommen kaum den Berg hoch. Bei der ersten Gelegenheit und etwas früher, als ich eigentlich müsste, steige ich aus, ich geh den restlichen Weg lieber zu Fuß.


Es ist Samstag Nachmittag, mein erster Shabbat in Jerusalem und es ist wirklich so still und feierlich, wie man es sich immer vorstellt. Shabbat bedeutet allerdings auch, dass es noch eine ganze Weile nichts essbares zu kaufen gibt, die Geschäfte und Restaurants öffnen bis auf ein paar Ausnahmen erst abends nach Shabbat-Ende. So dachte ich mir, in der Altstadt finde ich bestimmt ein christliches oder muslimisches Restaurant - Ramadan hatte ich im Eifer des Gefechts auch vergessen - und machte mich in sengender Hitze auf in Richtung der hohen Stadtmauern. Noch bevor ich etwas zu Essen finde, seh ich ein neues Schild: "Laufe entlang der Altstadtmauer bis zur Klagemauer". Gut, dachte ich mir, da wollte ich später eh noch hin, dann kann ich auch diesen neuen Weg gehen. Weit und breit waren keine anderen Besucher zu sehen, ich schicke meiner Mutter eine Whatsapp-Sprachnachricht: "Es ist soo schön! Und ich bin die Einzige hier!"


Der Tonfall hat sich dann ganz schnell geändert, als ich die steile Wendeltreppe und locker 10 Meter hohe (wahrscheinlich mehr) Altstadtmauer erklommen habe - ich bin die Einzige, ich bin hier oben ganz allein. Und ich bemerke genau in diesem Moment, dass ich nicht für die Höhe gemacht bin. Aus Angst, mein Handy könnte mir aus der Angstschweiß-nassen Hand rutschen und unter dem Metallgeländer durch fallen, habe ich trotz der wunderschönen Aussicht kaum noch Fotos gemacht. Außerdem konnte ich mich so mit beiden Händen links und rechts festhalten - man weiß ja nie, vielleicht rutsche ich meinem Telefon ja gleich hinterher durch den 10 Zentimeter hohen Schlitz unten am Geländer.


Und als ich dann so in meiner kleinen Ecke gedrängt saß und mich an die kalten Steine presste, fing der Muezzin an zum Gebet zu rufen - perfekter und stimmungsvoller könnte ein Blick über die Altstadt und den Ostteil der Stadt gar nicht sein.



 


Die guten Samariter


Am nächsten Tag stand dann meine Tour mit Reiseleiter Aaron Shaffier an, schon vor ein paar Jahren war ich mit ihm unterwegs durch Jerusalem und hab, obwohl ich schon so oft vorher dort war, trotzdem noch so viel neues dazu gelernt. Eigentlich sollte unser Trip zu den Samaritern gehen, um dort zu sehen, wie sie Pessach feiern - noch mit Tieropfer und allem, so wie es die Juden im Tempel früher gemacht haben. Dank Corona wurden unsere Pläne aber kurzfristig durchkreuzt, dieses Jahr können keine Besucher von "Außerhalb" bei der Zeremonie dabei sein. Aaron hat für uns deswegen ein Alternativprogramm aufgestellt, was nicht weniger interessant war.


Die Busfahrt geht von Jerusalem raus, durch einen Checkpoint in's Westjordanland, bzw. Judäa im Süden und Samaria im Norden. Da wollen wir hin. Die Samariter wohnen auf dem Berg Gerizim, gleich nebenan Nablus, der Bus hält kurz vor dem Schild, das uns informiert, dass Israelis die sogenannte "Zone A" nicht betreten dürfen. Zum ersten Mal wäre es kein Problem, sondern ein Vorteil, keinen Israelischen Pass zu haben, ich konnte vor 2 Jahren schon mal einen Ausflug nach Nablus machen.


Im Samariter-Museum angekommen gab es erst mal vom Bruder des Hohepriesters persönlich eine kleine Einführung - wer sind die "barmherzigen Samariter" eigentlich? Und ja, Hohepriester haben sie auch immer noch. Die Samariter von heute sprechen neben Hebräisch und Arabisch auch noch Alt-Hebräisch und leben nach wie vor nach den Regeln aus der Torah, den 5 Büchern Mose. Deswegen gibt es auch immer noch an bestimmten Feiertagen Tieropfer, am Shabbat wird nicht mal getrickst und die Klimaanlage muss komplett abgeschaltet sein und ich dachte immer, ein jüdischer Shabbat-Gottesdienst, der morgens um 7:30 Uhr beginnt wäre früh... die Samariter fangen schon um 3 Uhr nachts an, bis 6 wird gebetet, danach eine Stunde lang der Wochenabschnitt aus der Torah gelesen.


Der Neffe des Hohepriesters erklärt uns in akzentfreiem Englisch, wie sich das Leben als junger moderner Mann mit der Religion vereinbaren lässt und über die Tücken, wenn man als einer der 850 Samariter, die es noch gibt, versucht aus Israel aus- und wieder einzureisen. Er hat drei Pässe, einen israelischen, einen palästinensischen und einen jordanischen, das sorgt natürlich immer für Fragen und so bekommen die Flughafen-Angestellten einen ähnlichen Vortrag wie wir, die gerade hier im Samaritermuseum sitzen.


Bevor wir uns zum Mittagessen auf ein Weingut auf der anderen Seite von Nablus aufmachen, sehen wir noch den Platz, an dem heute Abend das Pessach-Opfer stattfindet und ich bin jetzt, wenn ich das so sehe trotzdem auch ein bisschen froh, das Schlachten der Ziegen dieses Jahr noch nicht erleben zu müssen. Den Termin hab ich mir für nächstes Jahr aber trotzdem schon mal frei gehalten. Als Fleisch-Esser muss man sowas abkönnen.



 


Und jetzt... endlich Livemusik!


Wer mich kennt, weiß: Ich verbringe meine Freizeit am liebsten auf einem Konzert. Der letzte Punkt in meiner Woche zurück in ein normales Leben ist auch gleichzeitig mein persönliches Highlight: meine Lieblingsband Orphaned Land live in Tel Aviv. Mein Ticket hab ich seit Anfang Februar 2020, das Konzert sollte eigentlich letztes Jahr im Juli sein. Von da an wurde es fünf mal verschoben, immer kam genau kurz vor dem Konzert ein neuer Lockdown oder andere Einschränkungen, es konnte nicht mal als bestuhltes Open Air, wie sie es in Deutschland letztes Jahr manchmal gab, stattfinden. Auch bei dem neuen Termin dachte ich dauernd "freu dich nicht zu früh" und erst, als ich dann meinen grünen Pass bekommen hab und die Tatsache, dass ca 60% aller Einwohner geimpft sind, ist meine Vorfreude so langsam gestiegen.


Also ging es ab nach Tel Aviv und kurz bevor mein Zug dort ankam, bemerkte ich natürlich: mein Pass liegt zuhause, ich habe aber ein Hostel gebucht und muss ihn auch im schlimmsten Fall in Kombination mit meinem "grünen Pass" vorzeigen, um ins Konzert zu kommen. Aber es wäre nicht Israel, wenn sich für bürokratische Probleme nicht noch eine Lösung finden lassen würde und ich konnte sowohl einchecken, als auch weiter zur Ticket- und Taschenkontrolle beim Konzert. Drinnen fühlte ich mich wie zuhause - seit Jahren spielt die Band mindestens einmal im Jahr in diesem Club. Schon bevor ich in Israel gewohnt habe, hab ich oft meinen Urlaub so gelegt, um bei diesem besonderen Event dabei zu sein.


Und es war wirklich so, wie man sich das erste Konzert nach 15 Monaten vorstellt, alle singen von Anfang an lauthals mit, tanzen, springen... Man sieht überall bekannte Gesichter, Israel ist klein, die Metal-Szene noch viel kleiner. Und ich war nicht die einzige, die sich die Freudentränen verkneifen musste, es war einfach so schön, nach diesem beknackten Jahr und den strengen Einschränkungen in Israel einfach mal für 2 Stunden Spaß zu haben und zu genießen. Und wenn dann noch alle im Chor mitsingen



hat man schon ein bisschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft - vor allem, wenn man verfolgt, was diese Tage in Jerusalem abgeht. Wieso gerade Orphaned Land mit ihren Themen meine Lieblingsband ist, muss ich denke ich an anderer Stelle noch mal erzählen. Solange schwelge ich noch in Erinnerungen, es war so schön, alle wieder zu sehen und so viele Leute wie an diesen Abend hab ich im ganzen letzten Jahr nicht umarmt.


Glückliche Gesichter - Foto: Amit Liber, www.metalist.co.il

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